Cover
Titel
Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung


Autor(en)
Spuhler, Georg
Reihe
Veröffentlichungen des Archivs für Zeitgeschichte ETH Zürich 7
Erschienen
Zürich 2011: Cicero Verlag
Anzahl Seiten
229 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

«Das Erstaunlichste am medizinischen Fall von Rolf Merzbacher ist aus heutiger Sicht, wie die psychische Belastung durch die Trennung von den Eltern sowie durch ihre Deportation und Ermordung als Erklärung seiner Krankheit in Vergessenheit geriet.» (196). Zu diesem Befund gelangt Gregor Spuhler, Zeithistoriker und Leiter des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich, auf der Basis seiner minutiös konzipierten Studie, die als Biografie und Fallrekonstruktion angelegt, über Rolf Merzbacher berichtet, der 1937 als Dreizehnjähriger in die Schweiz kam und zusammen mit seinem Bruder die nationalsozialistische Verfolgung im Exil überlebte. Ohne andere Optionen wurde der Jugendliche nach seiner Schulentlassung in der Landwirtschaft und der Gärtnerei beschäftigt, wenn er auch dazu kaum prädestiniert war. Gesellschaftliche Normen und flüchtlingspolitische Dispositionen liessen jedoch keinen anderen Weg offen. Bereits als Jugendlicher litt er an Konzentrationsstörungen und begann eine Psychotherapie. 1944 trat er in die thurgauische Klinik Münsterlingen ein; von Elektroschockbehandlungen erhoffte er sich eine Heilung seines Leidens. Als nach dem Krieg die Thurgauer Behörden ihn als unerwünschten Juden loswerden wollten, wurde er in eine Klinik im Kanton Graubünden verlegt, in der er bis zu seinem Tod 1983 in psychiatrischer Pflege blieb. Schon früh in den 1950er Jahren warf ein ehemaliger Arbeitgeber von Rolf Merzbacher die Frage auf, ob man sich nicht selber Vorwürfe machen müsse. Die deutsche Wiedergutmachungsbehörde hatte dann in den 1960er Jahren darüber zu entscheiden, ob es zwischen der Krankheit von Rolf Merzbacher und der Judenverfolgung einen Zusammenhang gebe.

Gregor Spuhler erforschte und erzählt die Geschichte Rolf Merzbachers auf verschiedene Weise, kumulieren sich doch in dieser Lebensgeschichte vielfache Erzählstränge wie auch quellenspezifische Zugänge, die der Autor geschickt zusammenzuführen weiss. Das Schicksal des Betroffenen wird mit Hilfe von Selbstzeugnissen, Akten der Psychiatrie, Polizei, Flüchtlingsfürsorge und dem Wiedergutmachungsverfahren wie auch mit Interviews von Zeitzeugen dargestellt. Gleich einem Mosaik fügen sich so die einzelnen Teilgeschichten zusammen und ergeben ein erklärendes Ganzes. Die Untersuchung zeigt, wie historische Forschung komplexe Sachverhalte auszuleuchten vermag und sich damit auch Fragen nach Handlungsoptionen verbinden lassen. Kein abschliessendes Urteil kann die Studie jedoch auf die womöglich für die Familienangehörigen akute Frage geben, ob ohne nationalsozialistische Verfolgung alles anders gelaufen wäre. Offenkundig wird aber der Rahmen der politischen und gesellschaftlichen Zwänge, in dem sich das dramatische Leben des Betroffenen abspielte. Als junger, nicht mehr «funktionstüchtiger» Emigrant, der es weder im Arbeitslager noch in der Landwirtschaft aushielt, verblieb die Klinik eine der wenigen Orte, wo man ihn unterbringen konnte. Auch wirkten sich die eingeschränkten Ausbildungsmöglichkeiten wie auch das für viele Flüchtlinge schwer zu ertragende Leben im Lager aus. Besonders aufschlussreich sind die nachverfolgte Entstehung und Entwicklung der Krankenakten, die einmal verfasst und zugeschrieben, eine eigentliche Eigendynamik entfalteten und Leben und Krankheitsdiagnose des Patienten (mit) zu bestimmen begannen. Vom ursprünglich «rätselhaften» Patienten, der engagierte Ärzte fand, wurde Rolf Merzbacher zu einem gewöhnlichen Schizophreniepatienten «normalisiert». Die Studie stellt auch klar, wie ein weiterhin grassierender Antisemitismus nach dem Krieg direkt auf das Leben des jungen Emigranten einwirkte, was sich u.a. an der Vertreibung aus dem Kanton Thurgau 1951 manifestierte.

Als Biografie und Fallgeschichte angelegt, verbindet Gregor Spuhler in seiner Rekonstruktion die verschiedenen Geschichten und Schauplätze anschaulich und vermittelt einen fundierten Einblick zur Vertreibung der Familie, der Trennung von den Eltern, der Deportation der Eltern in das Lager Gurs in Südfrankreich, das Emigrantenleben des Jugendlichen Rolf Merzbacher in Kreuzlingen, Davesco und Tägerwilen, über Eintritt und Verlauf der Krankheit in der Klinik in Münsterlingen, der Ausweisung aus dem Kanton Thurgau und der Wiedergutmachung durch deutsche Behörden. Es ist diese Kombination und Assemblage einzelner Fakten und Geschehnisse, die es uns nun ermöglicht, die Tragweite des damaligen Geschehens sowie die Handlungsräume der Akteure auszuloten. Dies geschieht mit Einbezug damaliger Denk- und Vorstellungswelten, die auch die wissenschaftlichen Zugänge und Grenzen damaliger Forschungserkenntnisse widerspiegeln. Anhand der biografisch angelegten Darstellung des Schicksals von Rolf Merzbacher tritt auch das hervor, was man eine schreckliche «Normalität» nennen könnte. Als die Zuschreibungen einer erblich bedingten Schizophrenie hinterfragt worden sind, war es für den Patienten schon zu spät.

Gregor Spuhlers Studie eines Einzelschicksals ist sowohl methodisch wie auch inhaltlich beispielhaft für die Aufarbeitung und bietet erhellende Einblicke in die damaligen Mechanismen der Flüchtlingspolitik und Psychiatrie, die wiederum am biografischen Fall verdeutlichen, welche Wirkung von ihnen ausgegangen ist. Das Buch trägt deshalb auch wesentlich zur Aufarbeitung bei, wie der Autor am Schluss aufzeigt.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu: Gregor Spuhler, Gerettet – zerbrochen. Das Leben des jüdischen Flüchtlings Rolf Merzbacher zwischen Verfolgung, Psychiatrie und Wiedergutmachung, Zürich, Chronos, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 740-742.

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